Jan Pfaff    Journalist

     
 













Vom Hunger des Meeres


Früher trotzten Menschen der Nordsee Land ab. Jetzt kommt das Wasser zurück. Ein Riesendeich soll das Schlimmste verhindern


Der Tagesspiegel, 17.09.2007



 

  Wahrscheinlich ist es nicht verwunderlich, dass einem Bilder in den Kopf schießen, wenn man sich mit Rüdiger Schirmacher zu einem Treffen verabredet. Es sind Bilder von einer hageren Gestalt, einem wehenden Mantel und einem weißen Ross. Bilder von einem Mann, der auf einem Schimmel die Deichkrone entlangsprengt und nur anhält, um seine Arbeiter anzutreiben. Sie sollen einen Deich errichten, wie es ihn noch nie gegeben hat. Er soll sein Lebenswerk werden.

Es sind Bilder, die der Schriftsteller Theodor Storm Ende des 19. Jahrhunderts in seiner Novelle „Der Schimmelreiter“ geprägt hat. Darin versucht der ebenso weitsichtige wie ehrgeizige Deichgraf Hauke Haien, einen kolossalen Deich zu bauen – und muss nicht nur dem Meer trotzen, sondern auch dem Beharrungsvermögen seiner Mitbürger.

Es ist ein Kampf, den Rüdiger Schirmacher nur zu gut kennt. Der 57 Jahre alte Diplomingenieur ist ein moderner Deichgraf, „Leiter des Planungsstabs Küstenschutz in Schleswig-Holstein“. Er verantwortet ein Deichprojekt, das auf nicht weniger Widerstand stößt, das aber auch nicht weniger kolossal ist als das von Hauke Haien: Der Schimmelreiter wollte dem Meer im 19. Jahrhundert noch fruchtbares Ackerland abringen; Rüdiger Schirmacher kämpft nun darum, dass sich das Meer das Land nicht zurückholt.

Schirmachers Projekt wurde 2001 von der schleswig-holsteinischen Landesregierung beschlossen. Sein Auftrag lautet: Sämtliche Nordseedeiche des Landes sollen in den nächsten Jahren mindestens um einen halben Meter erhöht werden. Es ist dringend. Wegen des Klimawandels müssen sich die Küstenbewohner in den nächsten Jahren auf einen steigenden Meeresspiegel und heftigere Stürme einstellen. Bei Sturmfluten ist ein Viertel Schleswig-Holsteins von Überschwemmungen bedroht.

Aus diesem Grund stapft der Diplomingenieur nun breitbeinig durch den Matsch, grüßt die Handwerker und lobt, wie weit die Arbeiten an der Deichmauer schon vorangekommen sind. An der Elbmündung wird der Schutzwall auf einer Länge von neun Kilometern verstärkt. Wenn Schirmacher die Fakten aufzählt, schwingt der Stolz eines Baumeisters in seiner Stimme: „Für den Deichkern haben Lastwagen 800 000 Kubikmeter Sand herangekarrt, fast genauso viel schweren Kleiboden für die Abdeckung.“ Insgesamt koste das Großprojekt 35 Millionen Euro.

Von einer streitbaren Persönlichkeit, wie Hauke Haien es war, kann man bei Schirmacher auf den ersten Blick nicht sprechen. In gemütlichem Plauderton erzählt er von seiner Arbeit. Wenn das Gespräch allerdings auf die Bewohner des kleinen Dorfs Neufeld im Südwesten Schleswig-Holsteins kommt, schwindet die Gelassenheit aus seiner Stimme. Er sagt dann nur knapp: „Das sind schwierige Menschen.“

Das letzte Stück der Baustelle macht Schirmacher nämlich die meisten Probleme. Dort stehen vier Häuser direkt auf dem alten Deich, der deshalb nicht so weit erhöht werden kann wie eigentlich vorgesehen. Das Angebot der Behörde, ihnen die Häuser abzukaufen, lehnten zwei der Anwohner ab. Einer von ihnen ist Peter Haje. „Op’n Diek“ heißt Hajes Gaststätte – auf dem Deich. Zu ihm kommen die Gäste, um geräucherten Fisch zu essen und den Ausblick über die Elbmündung zu genießen. Sieben Jahre Lärm und Ärger habe ihm Schirmachers Baustelle eingebracht, sagt Haje. Dabei sei das Ganze völlig unnötig.

Vom Deich gleitet der Blick über flache Wiesen mit Schafherden. Einige Kilometer entfernt sieht man Containerschiffriesen aus der Nordsee in die Elbmündung einfahren und langsam stromaufwärts ziehen. Das Meer scheint weit genug weg, um sich in Neufeld sicher zu fühlen. „Das trügt“, sagt Schirmacher. „Der alte Deich ist zu niedrig, die Böschung zu steil.“

Es ist ein Satz, der so wörtlich in Storms Schimmelreiter-Novelle stehen könnte. Ein Stück weit könne er die Hausbesitzer ja verstehen, sagt Schirmacher. „Aber man muss auch an die Sicherheit von 25 000 Menschen im Hinterland denken, die von einem Deichbruch betroffen wären.“

Peter Haje hat auf das Kaufangebot der Behörde damals geantwortet, dass er seine Gaststätte für 2,5 Millionen Mark aufgeben würde. Ein Fantasiepreis. Genauso gut hätte er antworten können, dass er niemals verkaufen würde. Haje ist ein schwerer Mann mit weißgrauen Haaren, 58 Jahre alt, Schützenkönig im Dorfverein. Früher war er einmal Schäfer. In der Gaststätte hängen Schwarzweißfotos an den Wänden. Bilder aus der Zeit der Jahrhundertwende, als im Neufelder Hafen noch keine Sportboote lagen, sondern Fischer von dort aufs Meer fuhren. Erfahrung sei an der Küste noch etwas wert, sagt Haje. „Als unsere Vorfahren Häuser auf den Deich bauten, haben sie schon gewusst, was sie taten.“

Der Wind, sagt Haje, drücke bei einer Sturmflut die Wellen immer auf die andere Seite der Elbmündung. Dadurch sei Neufeld geschützt. So wie bei der großen Sturmflut 1962. Auf der gegenüberliegenden Seite tobte das Meer. Die Wellen nagten den Deich dort bis auf einen Fußbreit ab. Als 13 Jahre alter Junge stand auch Haje damals auf dem zerfressenen Damm, starrte erschreckt und fasziniert zugleich auf das tosende Wasser. „Ich weiß, was eine Sturmflut bedeutet“, sagt er. Aber er wisse auch, dass es in Neufeld damals keinen Wellenschlag gegeben habe. Der alte Deich sei völlig ausreichend, die Gefahr herbeigeredet.

Andere Deichbewohner denken ähnlich. Eine alte Dame sagt: „Vom Klimawandel bekomme ich sowieso nichts mehr mit.“ Im Nachbarhaus zuckt der Besitzer mit den Schultern. „Das wird schon nicht so schlimm werden.“

Es sind Stimmen, wie sie den Deichbau seit seinem Anbeginn begleiten, Stimmen von Zweiflern, aber auch von Sorglosen und von jenen, die durch den Deichbau einen persönlichen Nachteil befürchten. Aus der Geschichte vom Schimmelreiter müsse man trotzdem etwas lernen, sagt Rüdiger Schirmacher. „Während Hauke Haien alles allein entschieden hat, versuchen wir heute, Rücksicht auf die Erfahrungen und Bedürfnisse der Menschen zu nehmen.“ So habe man den niedrigeren Wellenschlag an dieser Stelle durchaus einberechnet – allerdings mit dem Ergebnis, dass der alte Deich dennoch nicht für den Klimawandel gerüstet sei.

In der Schimmelreiter-Novelle reitet Hauke Haien rastlos die Küste entlang. Ständig angetrieben von der Sorge, nicht genug für die Sicherheit der Deiche getan zu haben. Diese Unruhe kennt auch Schirmacher. Ihn allerdings führte sie nicht nach draußen, sondern an seinen Schreibtisch. Neulich habe er sich einmal hingesetzt und ausgerechnet, was es kosten würde, alle Deiche in Schleswig-Holstein um einen weiteren Meter zu erhöhen. Falls etwa in Grönland das Eis schneller schmelzen sollte, als die Wissenschaftler heute erwarten.

Das Eis ist die große Unbekannte in den Klimaszenarien. Es taut nicht gleichmäßig ab, sondern immer schneller, je weiter es voranschreitet. Schmilzt es zu schnell, könnte das den Meeresspiegel in den nächsten 100 Jahren zusätzlich um 10 bis 20 Zentimeter anheben.

Nachdem er alle Zahlen addiert hatte, stand auf Schirmachers Papier eine Summe, die ihn erschreckt hat. Über eine Milliarde Euro würde ein Meter mehr Sicherheit kosten, allein für die schleswig-holsteinische Küste. Niedersachsen brauchte mindestens genauso viel. „Technisch können wir das in Deutschland in den Griff bekommen. Es ist vor allem eine Frage der Kosten“, sagt Schirmacher.

Vor Peter Hajes Gaststätte haben Schirmachers Bauarbeiter nun eine Hochwasserschutzwand aus Klinkersteinen hochgezogen. Es ist ein Kompromiss. Nach längeren Verhandlungen einigten Anwohner und Behörde sich auf die Höhe der Schutzmauer: 6,50 Meter über dem Meeresspiegel statt knapp acht Meter wie ursprünglich vorgesehen. Ohne den Ausblick von der Terrasse, sagte Haje, blieben seine Gäste weg. Dann müsste er schließen, vier Angestellte entlassen. Und so wurden in der Mauer vor seiner Terrasse zusätzlich Scheiben eingesetzt – aus sieben Zentimeter dickem Glas.

In Storms Novelle taucht Hauke Haien nach seinem Tod immer wieder dort als gespenstischer Reiter auf, wo sich in stürmischer Nacht ein Deichbruch ankündigt. In Neufeld soll der Reiter nie vorbeikommen. Dafür will Schirmacher auf jeden Fall sorgen: Hinter den vier Häusern auf dem Deich wird eine zweite Schutzwand in regulärer Höhe errichtet – um das Hinterland zu schützen.

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