Jan Pfaff Journalist |
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Das Erbe
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Als Harvard-Professor
Martin Puchner zu der Sprache Rotwelsch recherchiert,
stößt er auf Familiengeheimnisse und Abgründe der
deutschen Geschichte |
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taz am wochenende, 06.09.2019 |
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Da ist dieser geheimnisvolle Raum, das
Arbeitszimmer des Onkels, vollgestopft mit Büchern bis
unter die Decke. An einer Wand hängen Geigen, Bratschen,
eine Laute. Der Geruch von Zigarillos liegt in der Luft.
Neben dem Schreibtisch steht eine Chaiselongue mit einer
Vorrichtung, in die man ein aufgeschlagenes Buch hinter
einer Glasscheibe einklemmen kann, um es im Liegen über
dem Kopf zu lesen. Er ist sechs, vielleicht sieben Jahre alt und mit seinen Eltern zu Besuch in der großen Altbauwohnung in München-Schwabing. Der Onkel, ein kräftiger Mann mit rötlichem Bart, zieht aus den Regalen immer wieder Nachschlagewerke, liest Wörter vor, die Deutsch klingen und doch keinen Sinn ergeben. Es ist eine Geheimsprache, die kaum mehr jemand kennt, Rotwelsch, die Sprache der Landstreicher und Fahrenden. Und sein Onkel, Günter Puchner, hat beschlossen, sie in diesem Arbeitszimmer vor dem Aussterben zu retten. Der Onkel hat ein Privatarchiv zusammengetragen, so gut wie jedes Buch, das Rotwelsch nur irgendwo erwähnt. Dazu Bände über die Geschichte des Jiddischen, aus dem Rotwelsch viele Wörter entlehnt hat. Und Bücher über Migration und Untergrunddialekte in Berlin, Wien oder Prag. Er hat Zettelkästen angelegt, mit Hunderten Vokabeln und Redewendungen, akkurat mit Schreibmaschine auf Karteikarten getippt, samt hochdeutscher Übersetzung. Und er hat bekannte Stellen der Weltliteratur ins Rotwelsch übertragen: „Ich gable, Krönchen, bei der kauz’gen Lamp“, sagt Romeo da in Shakespeares Balkonszene zu Julia – „Ich schwöre, Fräulein, bei dem heil’gen Mond.“ Wenn Martin Puchner heute, mehr als vierzig Jahre später, über die Erinnerungen an seinen Onkel spricht, klingt die Begeisterung des Kindes noch durch. Weiterlesen auf taz.de |