Jan Pfaff   


Journalist

     




Das Befreiende



Eva Mozes Kor hat als Kind Auschwitz überlebt. Heute vergibt sie den Tätern. Kann das funktionieren?


der Freitag, 01.12.2016







Sie ist zehn Jahre alt, und sie versteht nicht, was das für ein Ort ist, was sie hier soll. Aus dem Halbdunkel des Waggons geht der Blick auf einen Strom von Menschen, Hunderte, vorangetrieben von Männern in Uniform. Ihre Mutter nimmt sie und ihre Zwillingsschwester an die Hand. Den Vater und die zwei älteren Schwestern hat die Menge schon verschluckt.

„Sind das Zwillinge?“, fragt ein Wachmann.

„Ist das gut?“, sagt die Mutter zögernd.

„Ja.“

„Sie sind Zwillinge.“

Ohne ein weiteres Wort reißt der Mann ihr die Kinder weg. Es ist das letzte Mal, das Eva Mozes Kor ihre Mutter sieht. Aus ihrer Familie werden nur sie und ihre Zwillingsschwester Miriam überleben.


Heute, 72 Jahre später, an einem Novembernachmittag in Berlin, erzählt Eva Mozes Kor sehr ruhig von der Szene, die sie in ihrer Erinnerung immer wieder erlebt. Die Ankunft in Auschwitz, der Gang über die Selektionsrampe, Sinnbild des Zivilisationsbruchs. Da ist kein Zittern in ihrer Stimme. Sie konzentriert sich auf das präzise Vermitteln der Erfahrung. „Was passiert ist, ist passiert“, sagt sie knapp. Und kehrt im Gespräch doch immer wieder zu ihrer Mutter zurück, fragt sich, was diese heute über sie denken würde. Die Mutter, auf die sie nach der Befreiung lange wütend war, weil sie sie alleingelassen hatte, nicht auch überlebt hatte.

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